Das Buch des deutsch-englischen Historikers John C. G. Röhl bietet ein erschütterndes Bild von den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs: Der machtpolitisch dynamischste Staat des alten Europa wird von einem lächerlich-fürchterlichen "Operettenregiment" geführt, ist aber mächtig genug, Deutschland und Europa in ihre schwersten Krisen zu treiben. Mit Wilhelm II. steht ein narzißtischer Monarch an der Spitze des Reichs, dessen im Exil geäußerte Überlegung zur Judenvernichtung "... am besten wäre Gas" die Frage nach einer bedrückenden Kontinuität in der deutschen Geschichte aufwirft.
Wilhelm II., während des Ersten Weltkrieges als kinderfressende Bestie dargestellt, war vor 1914 eine der schillernden Gestalten auf der Bühne der Geschichte. Von 1918 bis 1941 lebte er zurückgezogen und isoliert in seiner Traumwelt auf Schloß Doorn, seinem holländischen Exil.
Der Autor dieses Bandes, der englische Historiker John Röhl, ist seit Beiträgen zum ersten deutschen Historikerstreit der 6Oiger Jahre bekannt. Damals ging es, im Anschluß an die Arbeiten des Hamburger Historikers Fritz Fischer, um die deutsche Politik vor und im Ersten Weltkrieg: deren Anteil am Ausbruch dieses Konfliktes und die Kriegsziele des Kaiserreiches zwischen 1914 und 1918. Röhl hat sich insbesondere der Innenansicht des Kaiserlichen Deutschland gewidmet, und hier vor allem dessen Regierungssystem im Verlauf der Staats- und Verfassungskrise der Nach-Bismarck-Ära. Seine enge These vom Kriegsentschluß des Führungszirkels um Wilhelm II., anderthalb Jahre vor dem tatsächlichen Kriegsbeginn, im Dezember 1912, ist bis heute umstritten.
Röhl beweist insgesamt die Reichweite seines konservativ-biographisch orientierten Ansatzes. In der Überfülle neu erschlossener Details, Akten und Dokumente, sieht er mit Recht die Bedeutung seines Werkes, das einer lange Jahre vernachlässigten und pauschal verurteilten und verdrängten Persönlichkeit unserer Geschichte gilt. War Wilhelm II., dieser an sich unernste Mensch, als Monarch nicht eher "Guillaume le timide" ("Wilhelm der Schreckhafte")? Ein Vakuum auf der politischen Bühne oder - wie Röhl es versteht - der wahre Initiator im politischen Kräftespiel?
Wie gering die Bedeutung des Kaisers tatsächlich war zeigt dessen völliges Zurücktreten mit Beginn des Krieges und nach dem Scheitern der Marneschlacht 1914.
Diese Hinweise schmälern jedoch keineswegs Röhls Verdienst, mutig eine derartig umstrittene Gestalt wie Wilhelm II. erneut in das Licht der Forschung gerückt zu haben. Dennoch scheint es riskant, sich dem Kaiser überwiegend psychologisierend zu nähern. Das Bild der Akten zeigt diesen, wenngleich im Zentrum der Verbindungen, so doch eher als Funktion seiner Umgebung. Den Reichskanzler Bethmann Hollweg in der Vorbereitung auf einen großen kriegerischen Konflikt als machtlos zu verstehen, bleibt angesichts dessen, von Röhl zitierten Gespräches mit dem Feldmarschall v.d. Goltz-Pascha im Dezember 1912, das ich ihm 1977 mitteilte, unverständlich. Erst recht aber sollte ein weiterer Gegenstand Röhlscher Interpretation, der sogenannte "Kriegsrat" vom Dezember 1912, und der nach Röhl damit verbundene Entschluß des Kaiserreiches zum Krieg, nicht lediglich als Einzelereignis von stilbildender Bedeutung gesehen werden. Röhl sieht hier gleichwohl eine Schwäche seiner Argumentation, denn jener Teil der deutschen Führung um welchen es hier entscheidend geht, die Militärs, ist bisher kaum angemessen dargestellt.
Röhl arbeitet seit diesem hier besprochenen Band an einer dreibändigen Biographie des deutschen Kaisers. Die These von dem entscheidenden Einfluß der Militärs auf Wilhelm II., und damit auf die deutsche Politik um die Jahrhundertwende, wird der englische Historiker darin wahrscheinlich neu belegen. Dieser Gedanke ist aller Voraussicht nach wesentlich tragfähiger, als das so oder so geartete Liebesleben des Kronprinzen Wilhelm und späteren deutschen Kaisers. Momentan wird Röhl von ungewohnter konservativer Seite akklamiert. Die internationale Forschung hat die Biographie und auch Wilhelm II. neu entdeckt. Vor diesem Hintergrund können Röhls weitere Beiträge mit Recht und Spannung erwartet werden. Ihm alle Gesundheit für sein grosses Werk.
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