Die Familie Ising erlebt den Krieg
Monika Fuchs, Thalia-Buchhandlung Hamburg
Den ersten Band „Eine Familie in Deutschland – Zeit zu hoffen, Zeit zu leben“ von Peter Prange habe ich Ihnen im Herbst 2018 vorgestellt. Seit November 2020 gibt es jetzt auch den zweiten Band als Taschenbuch.
Ich liebe diese Bücher von Peter Prange. Er schafft es immer wieder, dass man einer spannenden Familiengeschichte folgt, mit den Familienmitgliedern mitfiebert, aber eben auch so ganz nebenbei etwas über die jeweilige Zeit erfährt.
Nachdem der erste Band mit zwei gewaltigen Cliffhangern endete, war ich sehr gespannt, wie es mit dem zweiten Band weitergehen wird. Aber auch dieses Mal hat mich der Umfang erst einmal abgeschreckt – knapp 1000 Seiten brauchen halt so ihre Zeit. Doch nachdem ich endlich angefangen habe, habe ich nicht länger als eine Woche für das Buch gebraucht. Einfach, weil es mich wieder so mitgerissen hat!
Wenn man den zweiten Band anfängt, hat man das Gefühl, dass die beiden Bände einfach geteilt wurden, weil das Buch in seinem Umfang den Leser sonst erschlagen hätte. Die Geschichte geht nämlich so weiter, wie sie aufgehört hat. Es gibt keine Einführung oder kleine Zusammenfassung, was im ersten Band bis dahin passiert ist. Ich war aber trotzdem sofort wieder in der Geschichte drin.
Wir springen wieder in kleinen Kapiteln zwischen den einzelnen Familienmitgliedern hin und her. An der Grundsituation hat sich nicht wirklich etwas geändert. Alle setzten ihre eingeschlagenen Wege fort. Edda reist mit Leni Riefenstahl nach Polen, um den Siegeszug der Deutschen im Film festzuhalten. Danach darf Leni Riefenstahl ihren Film „Tiefland“ drehen. Doch diese beiden Filme lassen Edda die wahre Natur Leni Riefenstahls erkennen. Charly arbeitet weiterhin als Kinderärztin im Krankenhaus Göttingen. Im Geheimen behält sie den Kontakt zu ihrem geschiedenen Ehemann Benny, der inzwischen in den Niederlanden gestrandet ist. Georg muss als einziger der Männer in den Krieg ziehen, Horst leitet das Arbeitslager des KdF-Betriebs, der allerdings inzwischen rein für die Rüstung arbeitet. Willy ist in ein Heim gekommen, in dem es ihm anscheinend gut geht. Und Hermann und Dorothea versuchen sich aus allem Politischen herauszuhalten, obwohl Hermann nach wie vor Ortsgruppenleiter von Fallersleben ist.
Am Anfang der Geschichte leben noch alle Familienmitglieder, aber das wird sich im Laufe des Romans noch deutlich ändern. Ich war überrascht, wie viele der Hauptpersonen den 2. Weltkrieg nicht überlebt haben.
Diese Geschichte hat mich wieder sehr in ihren Bann gezogen. Ich war erstaunt, wie die Familie trotz großer Differenzen zumeist zusammengehalten hat. Aber es gibt auch Verrat. Peter Prange schafft es aufzuzeigen, in welchem Dilemma viele Menschen steckten. Einfach mal gegen Hitler und das Regime aufzubegehren war nicht so einfach möglich, wie wir es uns heute alle so leicht vorstellen. Und als es dann die ersten Opfer durch die Bombersoldaten der Engländer und Amerikaner gab, sind diese auch bei denjenigen die Mörder, die eigentlich mit der Politik nichts am Hut haben.
Besonders interessant fand ich zwei Teilstränge der Handlung. Der eine ist der Teilstrang, der in dem niederländischen Durchgangslager Westerbork spielt. Dorthin hat es Benny verschlagen. Anfangs lebten dort die Juden, die von den Niederländern von dem Passagierschiff St. Louis aufgenommen wurden. Sie konnten sich dort frei bewegen. Doch als die Deutschen in die Niederlande einmarschiert sind, ändert sich die Situation der Juden dort massiv. Regelmäßig gehen von dort Züge in die Konzentrationslager im Osten.
Und der zweite Handlungsstrang ist die Geschichte von Gilla Bernstein. Sie ist die Tochter eines jüdischen Kriegskameraden von Hermann Ising. Anfangs war die Familie noch häufig bei den Isings zu Besuch. Aber als die Judenverfolgung begann, hat die Familie Ising die Familie Bernstein ihrem Schicksal überlassen. Gilla, eine ausgesprochen attraktive junge Frau, die ohne Probleme als Arierin durchgeht, kommt auf eine ganz perfide Idee, um ihre Eltern vor der Deportation zu retten. Sie arbeitet als Greiferin, d.h. sie verrät untergetauchte Juden, so dass auch diese deportiert werden können. Hier hat mit Sicherheit Stella Goldschlag Pate gestanden. Stella Goldschlag ist die Jüdin, die durch das umstrittene Buch „Stella“ von Tarkis Würger als Greiferin bekannt geworden ist. Im Zusammenhang mit Gilla zeigt übrigens der Onkel Carl sein wahres Gesicht. Ich war entsetzt und enttäuscht von ihm.
Das Buch endet eigentlich mit dem Einzug der Amerikaner 1945 in Fallersleben. Allerdings gibt es als Abschluss noch einen Ausblick, der1955 in Wolfsburg spielt. Der millionste Volkswagen ist vom Band gelaufen. Und dazu kommen die verbliebenen Mitglieder der Familie Ising noch einmal zusammen. Schnell zeigt sich, dass die braunen Netzwerke immer noch aktiv sind. Diejenigen, die im 3. Reich erfolgreich waren, sind es immer noch.
Ich war von diesem Buch wieder begeistert! Peter Prange hat so eine Vielzahl von Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Menschen im 3. Reich mit der Politik umgegangen sind. Und er zeigt auch, wie schwierig Widerstand gewesen wäre. Man wusste nie, wer wen verraten würde. Und so versuchte jeder mehr oder weniger unter dem Radar des Regimes zu bleiben. Die eigene Familie stand bei den meisten Menschen an allererster Stelle. Einige Fragen bleiben am Ende offen. Aber ich denke, dass ist ganz vielen Menschen nach dem 2. Weltkrieg ebenso ergangen.
Das einzige, was mir an diesem Buch fehlte, war ein Nachtrag, in dem noch einmal deutlich hervorgehoben wird, welche Personen real waren und welche reine Fiktion, und welche Situationen so in der Geschichtsschreibung nachzulesen sind oder ein wenig für den Roman angepasst wurden. So frage ich mich z.B., ob es sich in dem Durchgangslager Westerbork wirklich noch bis kurz vorm Ende so gut leben ließ, wie es der Autor beschrieben hat. Und entspricht die Rolle des Dr. Spanier im Roman dem Dr. Fritz Spanier in der Geschichte? Dass Gilla Bernstein von Stella Goldschlag inspiriert wurde, habe ich einmal vom Autor selbst gelesen. Aber auch hier frage ich mich, was ist nachprüfbare Geschichte, was Fiktion?
Ich kann dieses Buch nur jedem empfehlen, der sich gerne einmal mit dem Leben während des 3. Reichs in Romanform beschäftigen möchte. Wie bei allen Büchern von Peter Prange, die ich gelesen habe, ist es eine ausgesprochen spannende Geschichte mit viel historischem Hintergrundwissen. Einfacher kann man nichts über unsere jüngere Vergangenheit erfahren. Und wer sich dann weiter mit der deutschen Geschichte nach dem 2. Weltkrieg beschäftigen möchte, denen kann ich dann die beiden Bücher „Winter der Hoffnung“ und „Unsere wunderbaren Jahre“ empfehlen. Darin geht es zwar um eine andere Familie, aber geschichtlich ergänzen sie diese Familiengeschichte ideal!