»Joy Williams ist einfach ein Wunder.« Raymond Carver
Eine Nacht lang erkunden zwei Mädchen einen Zug mit Bar und Zauberbühne und lernen dabei ihr künftiges Leben kennen. Eine Frau, ratlos, plötzlich schlaflos, wird von der Faszination für eine nächtliche Radiosendung erfasst, in der, so glaubt sie, all ihre Fragen gelöst werden könnten. Von der Gesellschaft geächtet, schließen sich die Mütter mehrerer verurteilter Mörder zu einem Außenseiterclub zusammen. Seite für Seite, Satz für Satz führen uns diese Geschichten ins Unvorhersehbare hinein, verzweigen sich in die Tiefe wie Romane: unverwechselbar im Ton, beunruhigend und komisch zugleich.
Seit Langem feiert man Joy Williams als eine der Großen der amerikanischen Literatur. ›Stories‹ beweist ihre absolute Meisterschaft.
Da gibt es den Prediger, der seiner sterbenskranken Frau nicht von der Seite weicht. Oder die beiden Mädchen, die durch einen Zug stromern und dabei einen Haufen merkwürdiger Menschen treffen. Und natürlich auch die Mütter verurteilter Mörder:innen, die sich an einem Ort irgendwo in den USA niedergelassen haben. Sie alle eint eine große Einsamkeit, der sie trotz aller Bemühungen offenbar nicht entfliehen können. Und sie alle sind Protagonist:innen der "Stories" von Joy Williams, die kürzlich in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz bei dtv erschienen sind.
In den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen und im Literarischen Quartett des ZDF wurden die "Stories" fast schon überschwänglich besprochen, und auch auf der Rückseite des Buches huldigen zahlreiche zeitgenössische amerikanische Erzähler:innen Joy Williams. Umso überraschender, dass es sich bei dem Erzählband tatsächlich um die erste auf deutsch erscheinende Veröffentlichung der fast 80-jährigen Autorin handelt. Man kann bereits jetzt voraussagen, dass es nicht die einzige bleiben wird. Insgesamt 13 Kurzgeschichten umfasst die Ausgabe, die damit ein breites Schaffensspektrum der Autorin von 1972 bis 2014 abdeckt.
Ein kluger Schachzug des Verlags ist es, mit "Liebe" die wohl zugänglichste von ihnen ganz an den Anfang zu stellen und zudem als Leseprobe anzubieten. Nicht nur wegen des gewaltigen Titels, sondern auch, weil sie im Vergleich mit den meisten anderen Stories trotz des tieftraurigen Grundthemas einer krebskranken Frau und der unbändigen Liebe ihres Ehemannes fast schon etwas Hoffnungsvolles ausstrahlt. Eine Hoffnung, die vielen anderen Geschichten eher abgeht. Ohnehin wirkt die Reihenfolge in der deutschen Ausgabe - wie bei einem stimmigen Album der Rock- oder Popmusik - alles andere als beliebig, auch wenn sie sich nicht an die Chronologie des amerikanischen Erscheinens hält. So kann es wohl auch kein Zufall sein, dass uns Joy Williams mit der letzten der gesammelten Erzählungen "Auswege" aufzeigt. Auswege, die Protagonistin Lizzie ergreifen möchte, die aber auch die Leserschaft mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nehmen dürfte, denn Joy Williams' "Stories" sind alles andere als Wohlfühllektüre. Zieht man erneut die Musik als Vergleich heran, ist die Grundtonart eindeutig mehr Moll als Dur. Oder vielleicht auch eher Tschaikowsky als Händel.
Der rote Faden aller Erzählungen ist wohl die Einsamkeit der Hauptfiguren. Sei es der kleine Tommy, der in "Letzte Generation" nacheinander seine Mutter, seinen Bruder und seine beste Freundin verliert. Oder der 13-jährige Bomber Boyd in "Die blauen Männer", dessen Vater hingerichtet wurde, weil er einen Hilfssheriff und dessen Hund erschoss. Hinzu kommt eine gehörige Portion an Skurrilität, die sich in einigen Geschichten bis ins Groteske hineinsteigert, so zum Beispiel in den Dialogen zwischen Gwendal und Gloria in "Der kleine Winter" oder in der bereits kurz angerissenen Geschichte "Im Zug", in der die beiden Mädchen einem Haufen Irrer ausgesetzt zu sein scheinen. Zumindest auf den ersten Blick. Denn blickt man hinter die Fassade des Wahnsinns, offenbart sich dem Leser erneut ein zutiefst einsames Kind.
Dies ist ein Kritikpunkt, den man den insgesamt lesenswerten Stories machen könnte. Sie sind thematisch recht eindimensional. Fast überall lauern irgendwelche Abgründe, fast überall drückt die Einsamkeit der Figuren aufs Gemüt. So sind sie vielleicht eher häppchenweise als am Stück zu ertragen. Hinzu kommt, dass mich nicht alle Geschichten gleichermaßen überzeugen konnten. Während mich beispielsweise "Letzte Generation", "Die blauen Männer" oder auch "Besuchsrecht" sehr berührten, ließen mich "Rost", "Kongress" oder "Der Geliebte" eher kalt. Zentral für Williams sind jedoch immer die zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf irgendeine Art in "Stories" durchgehend gestört sind.
Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Freunde seltsamer Namen und Alliterationen kommen in "Stories" ganz wunderbar auf ihre Kosten. Denn Bomber Boyd, Gloria und Gwendal sind nur der Anfang...
Mitten aus dem Leben
Sandra von Siebenthal aus Romanshorn am 02.05.2023
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
«Das bringt uns zu der Frage: Was ist der Mensch?, mit ihren drei Untergliederungen: Was kann er wissen? Was soll er tun? Was darf er hoffen?»
Diese Worte Kants legt Joy Williams einem Automechaniker in den Mund, dessen Aufgabe es ist, einem Paar mitzuteilen, dass ihr ganzer Stolz so verrostet ist, dass eine Reparatur nicht mehr lohnt. Er ist eine Nebenfigur in den insgesamt 13 Kurzgeschichten, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Sie handeln unter anderem von einem Priester, dessen Frau im Krankenhaus liegt, von einer sterbenskranken Frau, die eine Freundin besucht, Frauen, die nur ein Umstand verbindet: Ihre Kinder haben Menschen umgebracht. Wir leben lesend ein Stück mit ihnen, tauchen in ihre Gedankenwelten ein, und gehen wieder weiter.
Obwohl die Geschichten in sich geschlossen und immer von anderen Menschen handeln, zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das Bild der (amerikanischen) Gesellschaft der mehrheitlich kleinen Leute, die vom Leben herausgefordert ihren Platz suchen und sich darin einrichten.
Gedanken zum Buch
«Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.»
Es sind die alltäglichen Fragen, welche in diesen Geschichten behandelt werden: Was ist richtig, was falsch? Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft, damit ich dazugehöre, wie, wenn ich weiss, dass ich eigentlich nur geduldet, nicht erwünscht bin? Es werden Ausschnitte von Lebensentwürfen dargestellt, welche doch über sich hinausweisen, da sie Teil eines Ganzen sind. Was vorher war, klingt in ihnen an, doch wohin es führen wird, bleibt offen.
«Sie war gross und ungepflegt und sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit Kurzem nicht mehr geliebt wird.»
Joy Williams gelingt es, ihre Figuren mit wenigen Worten plastisch werden zu lassen. Durch ihre Gedanken, ihre Sprache, ihr Auftreten werden sie zu Menschen, die wir uns vorstellen können. Es entstehen Bilder im Kopf, die über die Menschen hinauswachsen, zu Typen werden, die Erfahrungen in sich tragen und lebendig werden lassen – auch eigene, die beim Lesen mitgedacht werden.
«Wenn man stirbt, kann man alles tun, was man will?…Das wusste ich nicht. Ist ja mal was Neues. Es hat also auch seine guten Seiten.»
Es sind selten erbauliche Themen, sie reichen von Krankheit über Tod gar hin zu Mord, es sind Themen von Menschen, die Leid erlebt haben, die vom Leben herausgefordert sind. Trotzdem fehlt jegliche Form von Befindlichkeit, von Melancholie, von psychologischer Beurteilung. Die Geschichten werden sachlich, bildhaft und sprachlich klar erzählt, aufgelockert durch einige Prisen Humor.
«Im Grossen und Ganzen glaubten sie, dass die Toten in der Nähe blieben und alle Erfordernisse des Daseins auf Erden erfüllten, nur befreit von der Banalität täglichen Leidens.»
Aus diesen Geschichten tropft das ganz normale Leben von normalen Menschen, die mit ihrem Alltag ein Auskommen suchen und ihn doch immer ein bisschen zu verpassen scheinen. Es sind Sozialstudien ohne wissenschaftlichen Anspruch, es sind kleine Spiegel der Gesellschaft ohne moralinsauren Zeigefinger, es sind Finger in Wunden und Blicke in Abgründe ohne belastende Schwere. Es sind kleine Auszeiten aus dem eigenen Alltag mit den eigenen Ansprüchen, die zeigen, was es noch gäbe an Lebensmodellen und wie man damit umgehen könnte – oder vielleicht auch besser nicht.
Fazit
Unterhaltsame, dennoch tiefgründige – manchmal auch abgrundtiefe – Einblicke in die Gesellschaft des amerikanischen Kleinbürgertums.
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Eine Neuentdeckung, einer Autorin, die in den USA ein Star ist
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Eigentlich bin ich keine Freundin von Short Stories. Für meinen Geschmack wird in diese Geschichten immer zu viel Handlung auf zu engem Raum verarbeitet. Es gibt nur wenige Autor:innen, bei denen ich Kurzgeschichten liebe. Dies sind F. Scott Fitzgerald und Damon Runyon.
Doch der Klappentext dieses Buchs hörte sich so toll an, dass ich es angelesen habe. Aber ich habe es nicht zu Ende gelesen. Meine Rezension bezieht sich also nur auf die ersten vier Geschichten, die ich gelesen habe.
Joy Williams wird in den USA hochverehrt. Viele namenhafte Autor:innen sind Fans von ihr. Doch in Deutschland wird man erst jetzt auf sie aufmerksam. In dem im DTV Verlag erschienenen Buch sind 13 Geschichten aus den Jahren 1972 bis 2014 veröffentlich worden.
Die vier Geschichten, die ich gelesen habe, eint, dass sie melancholisch sind. Joy Williams beschreibt darin kleine Abschnitte aus dem Leben unterschiedlichster Menschen. Es geht darin um den Tod, um Krankheit und um Endlichkeit. Es sind keine Geschichten, die Mut machen. Es sind traurige Geschichten, die mich ratlos zurückgelassen haben. Vielleicht hätte ich mehr mit diesen Geschichten anfangen können, wenn ich nicht nur diesen kleinen Schnipsel aus dem Leben der Protagonisten erhalten hätte, sondern einen Roman über deren ganzes Leben hätte lesen können. Ich weiß es nicht. Ich befürchte aber, dass die Themen der Autorin einfach nicht meine Themen sind, bzw. ich die Lebensumstände der Protagonisten einfach nicht nachvollziehen kann. Für mich ist diese Sammlung einfach zu amerikanisch.
Was ich aber nach der kurzen Lektüre sagen kann, ist, dass die Autorin wirklich gut schreiben kann. Ihre Geschichten nehmen einen gefangen. Wer also wirklich gut gemachte Short Stories lesen möchte, keine Angst vor Melancholie und vor skurrilen Geschichten und Persönlichkeiten hat, der wird an diesem Buch sicherlich seine Freude haben.
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Richtig gute Stories zu schreiben, ist eine Kunst für sich. Joy Williams hat dies getan - ein Genuss sie zu lesen!
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