Seit seiner Kindheit quält den Erzähler eine Frage: Was hat sein Vater während der Besatzungszeit gemacht? Doch er traut sich nie, ihn zu fragen, zu unberechenbar, zu gewalttätig ist dieser Vater. Im Mai 1987, als in Lyon der Prozess gegen den NS-Verbrecher Klaus Barbie eröffnet wird, berichtet der Sohn als Journalist einer großen französischen Tageszeitung. Und erfährt, dass die Gerichtsakte seines Vaters im Archiv schlummert.
Sorj Chalandon. Besonders nach den Leseerlebnissen von "Am Tag davor" und "Wilde Freude" hatte ich einen besonderen Anspruch an dieses neue Buch von dem französischen Autor. Denn diese beiden Bücher sind recht unterschiedliche Bücher, die auch unter den Lesenden sehr gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen haben. Besonders "Wilde Freude" hat hier sehr polarisiert.
Wenn dann bekannt wird, dass Verräterkind um die Väterschuld geht, um die Kollaboration im zweiten Weltkrieg, ein besonders in Frankreich brandheißes Thema und man bedenkt, was Chalandon in seinen Romanen so thematisiert und wie er dies tut, so wird man neugierig. Und diese Neugier ist begründet! Schon der Roman "Stella" von Takis Würger behandelt dieses schwere Thema der Schuld. Und auch dieser Roman macht etwas mit den Lesenden. Und dieses Anzünden der Leserschaft gelingt natürlich auch Sorj Chalandon. Er lässt in seinem Roman zwei Thematiken auch irgendwie gegeneinander antreten, einmal den Prozeß gegen Klaus Barbie und einmal den innerfamiliäre Prozeß gegen den eigenen Vater. Denn schon der Titel des Buches sagt etwas, denn wer will wohl ein Verräterkind sein, so genannt werden? Denn genau so ein Bezeichnen hinterlässt Wunden. Wunden, die kaum geschlossen werden können. Die Chalandon hier vielleicht schließen möchte. Doch ob er dies schafft???
Dann diese Frage der Schuld. Eine einerseits leicht zu verstehende Frage. Doch andererseits sollte sich jeder später Geborene fragen, was er oder sie wohl getan hätten. Was man getan hätte, wenn das eigene Leben gefährdet gewesen wäre. Denn diese Frage lässt sich eigentlich nicht beantworten. Manche wachsen über sich hinaus und werden zu Helden. Aber das Gros der Menschen neigt wohl eher zum Untertanen und versucht sich möglichst ohne Blessuren aus prekären Situationen heraus zu larvieren. Kann man dies bewerten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht! Am meisten steht meiner Meinung nach eigentlich nur den Menschen eine Bewertung von so einem Handeln zu, die selbst zum Agieren in dieser Zeit gezwungen waren. Alle anderen sollten nachdenken.
Dass hier kein falscher Eindruck aufkommt, ich verurteile dieses menschenfeindliche Tun von jedem Mörder!
Chalandon versieht seinen Vater noch mit einem sehr wandlungsfähigen Charakter, was eine Bewertung noch mehr erschwert und dieses ganze Buch in meinen Augen brillant macht, denn manchmal ist es eben kein Schwarz und kein Weiß. Manchmal changiert einiges Tun in den verschiedenen Grautönen und die Frage nach dem eigenen Tun ist zum Glück meistens nicht beantwortbar. Ein schmerzhaftes Buch!
»»Was denn, mein Gott, er ist doch noch ein Kind!« [Tante]
- »Genau! Ein Verräterkind, das sollte er wissen.« [Großvater]
1962 war das, da war ich zehn.«
(S.29)
Der französische Schriftsteller und Journalist Sorj Chalandon (*1952) hat für sein Schaffen zahlreichen Preisen erhalten und u. a. für seine Reportagen über den Prozess gegen den Klaus Barbie mit dem Albert-Londres-Preis (dem renommierteste Journalistenpreis Frankreichs) ausgezeichnet.
In seinem autobiografischen Buch »Verräterkind« (»Enfant de salaud«, aus dem Französischen von Brigitte Große) schreibt der Autor in zwei Handlungssträngen über seine Erlebnisse als Journalist bei genau diesem Prozess gegen K. Barbie, und parallel über die Anwesenheit seines Vaters bei dem Prozess in Lyon, über toxische Familienverhältnisse und die Lügen und Wahrheiten seines Vaters, der im 2. Weltkrieg mehr als einmal desertiert ist. …
Es ist viel Zeit vergangen seit er als kleiner Junge von seinem Großvater als »Verräterkind« bezeichnet und von seinem Vater manipuliert worden ist. 1987 während des Prozess gegen den Nazi-Verbrecher K.Barbie erhält Sorj Chalandon die Akten über seinen Vater und sucht in diesen Protokollen, Dokumenten und Beweisen nach der Wahrheit über diesen ihm so nahen und doch so fremden Vater.
Warum sucht der Autor so vergeblich nach der Wahrheit seines Vaters?
»Du warst im Knast, du Idiot! […] Das hättest du mir erzählen sollen. Ich muss wissen, wer du bist, um zu verstehen, woher ich komme. Ich will, dass du mit mir redest, dass du mir zuhörst, verstehst du, das verlange ich von dir! Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man alles glaubt, sondern in dem, wo man versteht und akzeptiert. Diese Wahrheit bist du mir schuldig.« (S.63)
Es ist ein aufwühlendes, emotionales Buch bei dem ich mehr als einmal schwer aufgeatmet habe. Der Prozess gegen einen Nazi-Verbrecher und die erschütternden Zeugenaussagen werden sehr gut in die autobiografische Erzählung gebettet. Ich habe sehr mit dem Autor mitgefühlt, der sich mit dem Lügenkonstrukt seines Vaters fast (?) schmerzhaft auseinandersetzt. Eine beeindruckende schriftstellerische Leistung, mit großartigen Formulierungen dank der großen Übersetzungsleistung!
» »Warum haben Sie gelogen?«, fragt er.
»Weil ich dachte, dass ich mir so besser Geltung verschaffen kann.«
»Geltung verschaffen« habe ich mit einem fetten Rotstift un-terstrichen. Als du diese Worte zum ersten Mal in den Mund nahmst, warst du zweiundzwanzig, und heute, dreiundvierzig Jahre später, ist dieser Wunsch noch immer dein Elend und unser Schrecken.«
(S. 126)
Kein einfaches Buch, aber ein sehr wichtiges, das viele verschiedene Themen beleuchtet und vor allem eines zeigt: Das Wahrheit schwer greifbar ist.
In „Verräterkind“ erhält der Ich-Erzähler Sorj Chalandon alte Protokolle des Prozesses gegen den eigenen Vater, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund einer möglichen Kollaboration während der deutschen Besatzungszeit angeklagt wurde. Chalandons Vater verteidigt sich in den Befragungen mit denselben Mitteln, mit denen er Jahre später auch seinem Sohn begegnete: mit Mythen und Legenden, gestrickt um die eigene Person, oft nur schwer zu beweisende Heldengeschichten. Die Dekonstruktion dieser widerspruchsreichen Erzählung, pendelnd zwischen Kollaboration, Verrat und Résistance, findet im Jahr 1987 statt, während Vater und Sohn gemeinsam den Prozess gegen den deutschen NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie im Gerichtssaal in Lyon verfolgen; Chalandon in offizieller Funktion als Gerichtsreporter, sein Vater als Kriegsveteran und augenscheinlicher Bewunderer Barbies. Während im Prozess Barbies Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt werden - Folter von Mitgliedern der Résistance, Razzien und Deportationen von Jüdinnen und Juden in Lyon -, erfährt Chalandon nach und nach die Wahrheit über seinen Vater und dessen eigene Schuld und Mitschuld. „Verräterkind“ ist ein beeindruckender autofiktionaler Roman, der mich noch lange nach der Lektüre begleitet hat.
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