Am Ende dieser Geschichte steht eine Eskalation: Ein israelischer Tourguide streckt im Konzentrationslager von Treblinka einen deutschen Dokumentarfilmer mit einem Faustschlag nieder. Wie kam es dazu? In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef schildert der Mann, wie er jahrelang Schulklassen, Soldaten und Touristen durch NS-Gedenkstätten geführt hat und wie unterschiedlich diese mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Nach und nach zeigt sich, dass seine Arbeit nicht spurlos an dem jungen Familienvater vorübergeht – die Grauen der Geschichte entwickeln einen Sog, gegen den keine akademische Distanz ankommt.
»Sehr geehrter Herr Direktor von Yad Vashem, dies hier ist der Bericht über das, was dort vorgefallen ist. Mir wurde mitgeteilt, dass sie einen solchen erwarten, und ich möchte ihn auch erstatten.« |5
Um Aufrichtigkeit bemüht erzählt ein israelischer Holocaustforscher und Lagertourguide auf eine Eskalation zu. Er holt weit aus, rekapituliert seinen Werdegang mit Aufstieg und Fall. Es führt ihn zu Fragen der Moral, der Erinnerung und des Gedenkens, zu Identifikationen und Zuschreibungen, zu Opfer- und Täterrollen, zu ihrer Wirkung bis in die Gegenwart hinein. Wut, Ohnmacht und Brutalität brechen seinen emotional-distanziert wissenschaftlichen Selbstschutz. Die Zusammenarbeit mit einem deutschen Regisseur führt zu einer radikalen Wendung, die seinen Bericht an den Direktor von Yad Vashem erforderlich macht.
In wenigen Seiten gelingt es Sarid, eine kammerspielartige Intensität aufzubauen. Die moralischen Konflikte seiner Figur spitzt er so zu, dass es kaum möglich ist, sich den aufgeworfenen Fragen und ausgearbeiteten Widersprüchen zu entziehen. Wie geht aufrichtiges Erinnern? Welche Botschaften sind möglich und wie kommen sie bei den Nachkommen an? Wie ist es mit Universalität, mit Universalismus? Was macht Nähe und Distanz zur Shoah mit der jüdisch-israelischen Figur? Wie wirkt eine Identifikation mit den Opfern oder eine Abwehr von Opferrollen, eine Identifikation, Bewunderung oder Abscheu von Tätern, eine Zuwendung zum Militärischen? Wie die eigenen Kinder erziehen? Wie leben mit detailliertem Wissen um die Gewalt der Vergangenheit, die die Figur für ihren Sohn als Monster der Erinnerung benennt?
»"Was arbeitest du denn Papa?", fragte er. "Er erzählt ihnen, was passiert ist", half Ruth mir aus. "Was ist passiert?" Ido sah mich besorgt von unten an. "Es gab mal ein Monster, das Menschen getötet hat" , antwortete ich. "Und du bekämpft es?“, fragte Ido begeistert." Es ist schon tot", versuchte ich ihm zu erklären, "es ist ein Monster der Erinnerung".« |77
Die ganze Lektüre hindurch fragte ich mich, was es verändert, »Monster« in der deutschen Übersetzung durch eine deutsche Perspektive zu lesen und ob es überhaupt passend ist. Ich habe keine Antwort darauf und hätte gern Sarids Gedanken dazu erfahren.
Ein israelischer Historiker ist beauftragt, Führungen durch polnische KZ-Gedenkstätten zu leiten, ein Unterfangen, das ihn zutiefst erschüttert und die Frage aufwirft, wie gehen Menschen in der heutigen Zeit mit der Erinnerungskultur um.
Patriotisch? Verdrängend? Und dann sind da auch die desinteressierten Touristen, die Auschwitz als Punkt auf Ihrer Reise-to-do-Liste abhaken und sich doch eher auf den abendlichen Cocktail im Hotel freuen.
Ich habe selbst vor Jahren Buchenwald besucht und war entsetzt, dort tatsächlich einen Imbissstand am Eingang vorzufinden.
Sarids Buch ist wahrlich keine Unterhaltungslektüre, aber gehört zu den unverzichtbaren Zeugnissen, um das Geschehene niemals zu vergessen.
"Um sich in der Gesellschaft durchzusetzen, muss der Mensch fähig sein zu töten"
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Nach „Siegerin“ hat mich ein weiterer Roman von Yishai Sarid tief beeindruckt. Der schmale, gehaltvolle Band enthält einen Bericht an den Direktor der Israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Formuliert von einem Tour-Guide, der bis zu einer Eskalation im Konzentrationslager Treblinka viele Jahre israelische Schulklassen, Soldaten, Sicherheitskräfte und zuletzt Reisegruppen durch die Arbeits- und Vernichtungslager Polens führte.
Die Führungen sicherten das Einkommen seiner kleinen Familie, Zuhause in Israel. Der Mann ist gebildet, hat Geschichte studiert, in Holocauststudien promoviert und ein Buch geschrieben, das zum Verständnis des Vernichtungsprozesses beiträgt. Dass er eines Tages seinen Job als Tour-Guide in Frage stellt, verwundert nicht…
Ein schonungsloser und schmerzhafter Text, ein Zeitdokument, von dem ich mich gedanklich nicht lösen kann. In Teilen irritierend, auch verstörend und trotzdem menschlich. Zurückgenommen und sachlich verfasst.
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Dies ist ein Buch, das bis ins Mark erschüttert, das unter die Haut geht und das ich so noch nicht gelesen habe. Es ist die Geschichte des namenlosen Ich-Erzählers, der seinem Vorgesetzten, dem Direktor von Yad Vashem, in einem Bericht schildern muss, wie es so weit kommen konnte, warum das geschehen ist, was am Ende passiert ist. Dieser Erzähler, so erfährt der Leser, ist ein Historiker aus Jerusalem, der an einer Doktorarbeit über das System der Nazis schreibt und im Laufe der Geschichte auch ein versierter und angesehener Reiseleiter durch polnische Konzentrationslager wird. Dabei wird er immer mehr vom Grauen vereinnahmt, kann Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr unterscheiden, verliert sein privates Glück und seine Integrität, kann keinen Abstand mehr finden, steigert sich hinein und fordert genau das von seinen Schulklassen und Gruppen, die er durch die Lager des Grauens führt. Das kann nicht gut gehen…
Sarid berichtet in einer knappen, fast lakonischen Sprache und stellt die Frage: wer ist das Monster? Ist es die Erinnerung? Oder die sogenannte Erinnerungskultur, oder gar Erinnerungsmoral? Ist es das Grauen? Ist es der Mensch? Oder ist es gar all das zusammen? So viel Buch in einem so schmalen Bändchen – das ist schon sehr besonders.
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