'Ich bin mir sicher, dass nur du allein dieses besondere Werk vollbringen kannst. Und sei dir einer Sache bewusst: du bist bereits zu weit gegangen in dieser Geschichte, als dass du vor deiner Bestimmung jetzt noch davonlaufen könntest.' Im 10. Jahrhundert gehört der westliche Teil der heutigen Schweiz zum Königreich Birgunt. Es ist eine wilde Gegend voller Wälder und Sümpfe, wo viele Menschen noch im Glauben an die alten Götter und Geister leben. Die gute Königin Bertha schützt dieses Land tapfer gegen räuberische Einfälle der mediterranen Mauren.Als der Hirtenjunge Ernestus, den die Leute im Dorf Erni nennen, eine ausgerissene Ziege in den Wald verfolgt, überschreitet er unabsichtlich die Grenze des verrufenen Landstriches Nuithônia. Seit Menschengedenken ist es verboten, dieses Gebiet am Fuss der Alpen zu betreten, denn es heisst, in seiner Wildnis verberge sich ein geheimnisvolles Tor in das verwunschene Reich Helisee, wo die Feenkönigin Helva Hof halten soll. Als Ernestus in Nuithônia einen aussergewöhnlichen Fund macht, gerät er in einen Strudel abenteuerlicher Ereignisse, die ihn nicht nur tief in die magische Wirklichkeit der Feen und Elben verwickeln, sondern auch die Frage aufwerfen, ob er wirklich derjenige ist, der er zu sein glaubt. Und auf welche Weise ist sein Schicksal wohl mit dem verwegenen Ritter Durestân Karassius verwoben, den es auf der Jagd nach einem weissen Hirsch ebenfalls nach Nuithônia verschlägt? Eine tiefgründige Heimatgeschichte um Macht und Magie, Liebe und Freundschaft, Wunder und Wandlung, welche die überlieferten Sagen und Mythen der alten Schweiz zu neuem Leben erweckt.
“...bald ist die Yûlfeier und danach werden die Tage bereits wieder länger. In der Finsternis des tiefen Winters geschehen bisweilen furchtbare Dinge. Aber sobald das neue Licht wieder erwacht, klärt sich dann alles zum Guten.” (Helisee, S. 445)
J. R. R. Tolkien, George R. R. Martin, Andreas Sommer? Der erste weilt schon lange nicht mehr auf dieser Erde, hat uns aber das beschert, was man gemeinhin (High) Fantasy nennt. Die Motive - Magie, Heldenreise, Elben/Feen, Zwerge/Halblinge, Drachen, Ringe, Gestaltwandler - you name ist - die er für seine phantastischen Welten zusammengebracht hat, sind in irgendeiner Form in fast jeder Fantasygeschichte zu finden. Der zweite hat das Genre Mittelalterfantasy für mich perfektioniert, weiß aber nicht so recht, wie er sein großes Epos zu einem Abschluss bringen soll. Aber wer ist dieser Andreas Sommer?
Bevor die Menschen Geschichten aufgeschrieben haben, haben sie sie sich erzählt. Der Schweizer Andreas Sommer lässt als Sagenwanderer diese urtümliche Art der Weitergabe von Erzähltem wieder lebendig werden. Sowohl seine mystische Heimat - die Westschweiz - als auch seine Zeit als Tourguide bei den Tuaregnomaden, inspirierten ihn dazu, die eigentümlichen Märchen und Sagen seiner Heimat zu recherchieren und wieder lebendig werden zu lassen. Letztlich hat ihn dann die Pandemie dazu gezwungen, sich dem Niederschreiben des Erzählten zu widmen. Zum Glück, denn so entstand “Helisee. Der Ruf der Feenkönigin”.
Fantasy muss durch den Weltenbau überzeugen und dieser ist bei “Helisee” sehr raffiniert gemacht und wie es sich gehört auch so komplex, dass ich ihn nicht mit wenigen Worten wiedergeben kann. Jedenfalls koexistieren die magische Welt der Feen (in Helisee, dem Reich um die Feenkönigin Helva) und die Welt der Menschen (die Westschweiz im Frühmittelalter, zur Zeit der Burgunderkönigin Bertha) in diesem an Inhalt und Ideenreichtum wirklich nicht armen Roman. Wie das Nachwort verrät, sind neben den historischen Quellen zahlreiche mythologische sowie fantastische Motive und regionale Sagenstoffe in diesen Fantasyroman eingeflossen. Eine ganz große Rolle spielt die heidnische Tradition, also der “alte Glaube”, den die aufstrebenden Kirchenväter des Christentums am liebsten ausgelöscht hätten. Stattdessen haben sie nach und nach die keltischen Feiertage, also die acht “heiligen Feste im Jahresrad”, durch die christlichen ersetzt. Im Roman sind die positiv besetzten menschlichen Figuren jedenfalls vor allem die, die an den heidnischen Traditionen festhalten, obwohl Sommer ausdrücklich sagt, dass er beides nicht gegeneinander ausspielen wollte. Der Roman ist ein erzählerischer Versuch, die “Naturreligion” wieder mehr in den Fokus zu rücken, das Einssein des Menschen mit dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen in der Natur. So beginnt der Roman auch am Tag der Beldenfeier (Beltane, Walpurgisnacht, keltischer Sommeranfang), schlägt einen Bogen über Samuîn (Samhain, Halloween, keltischer Totengedanktag und Jahresanfang) und das Yûlfest (Yule, Wintersonnenwende, Weihnachten), um wieder im nächsten Frühjahr in der Beldennacht zu enden. An diesen heidnischen Feiertagen sind - so ist der Glaube - die Grenzen zwischen unserer Welt und der Welt der Magie durchlässig und so kommt Ernestus auch zum ersten Mal in das Reich der Feenkönigin.
Sommer kombiniert auf sehr geschickte Weise die Sagen und Mythen der Schweiz (Helvetia - Helva - Helisee) mit dem klassischen Motiv-Instrumentarium der phantastischen Literatur: Ein junger Mann (Ernestus) von vermeintlich niederem Stand begibt sich auf eine Helden- und Abenteuerreise, auf der er auf magische Gestalten trifft, Geheimnisse ergründen und um seine Liebe und sein Leben bangen muss und letztlich geht es dabei wieder einmal um nichts weniger als um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Hoffnung und Verzweiflung. Der Protagonist Ernestus steht dabei zwischen zwei Realitäten, die nicht miteinander vereinbar scheinen und seine Identität in Frage stellen: “War es diese unselige Zerrissenheit eines geteilten Schicksals zwischen unterschiedlichen Welten, die ihn zu einem Verlorenen gemacht hatte?” (446) Die Identitätssuche unseres Helden steht sinnbildlich für die Sinnkrise des modernen Menschen, der den Bezug zur Natur und damit seiner eigenen Herkunft verloren hat: “Der Sturm trieb ihn immer tiefer in die gähnende Finsternis hinab. Wie ein lichtloser Strudel erfasste ihn der Sog der ersten und der letzten Dinge.” (S. 454)
“Helisee” hat mich zeitweise so in seinen Bann gezogen, dass ich alles rundherum vergessen habe beim Lesen und das allein ist doch der Grund, warum man fantastische Literatur immer mal wieder zur Hand nehmen sollte: Um auch als Erwachsene/r in eine Märchenwelt entführt zu werden, in der wir von der Schönheit von Elfen entzückt und vom Sang und Klang des Magischen entrückt werden. Sommer sagt im Nachwort: Falls ‘Helisee’ über den reinen Unterhaltungsaspekt hinaus einen Impuls vermitteln kann, um dem persönlichen Erleben des Zauberhaften in der Natur und der persönlichen Verbindung von Landschaft und Spiritualität bewusst nachzuleben, dann hat sich für mich der Sinn und Zweck dieses Romans mehr als erfüllt.”
Wer mit Naturmystik, Sagen- und Fantasiewelten, Mittelalterromantik und nicht zuletzt den keltisch-heidnischen Bräuchen etwas anfangen kann, schöpft mit der Lektüre dieses Buches aus einem überreichen magisch-literarischen Füllhorn, das in der zeitgenössischen Fantasy wahrscheinlich seinesgleichen sucht. Fazit: Ein sehr fantastisches, tiefgründiges und besonderes Leseerlebnis. Ein zweiter Band erscheint 2025.
Ernie hütet die Ziegen des Dorfes. Lieber wäre es ihm jedoch, wenn die anderen ihn endlich mit seinem vollen Namen Ernestus anreden würden. Schließlich ist er doch kein Kind mehr! Als ihm eine Ziege ausreißt, überquert er den Bach, der die Grenze zu Nuithônia bildet. Natürlich weiß er, dass das streng verboten ist. Schließlich beginnt auf der anderen Seite ein magisches Reich. Hier findet er nicht nur die vermisste Ziege, sondern auch einen eigenartigen Stein. … und damit beginnt ein Abenteuer, das ihn nicht nur zur Wahrheit über sich selbst führt.
Andreas Sommers Fantasy-Roman ist eindeutig anders. Mit diesem Buch begeben wir uns nämlich nicht in eine High-Fantasy-Welt, aber auch nicht in eine klassische Urban-Fantasy-Umgebung. Die Geschichte ist in der (heutigen) Schweiz angesiedelt, handelt jedoch im 10. Jahrhundert. Man könnte sie also im weiteren Sinn als historische Urban Fantasy bezeichnen. Dabei bezieht der Autor alte regionale Sagen mit ein und verbindet sie mit dem kulturellen Übergang von den alten Naturglaubensvorstellungen zum Christentum. Im Nachwort geht er auch darauf ein, welche Elemente den Sagen, welche der realen Geschichte und welche seiner Fantasie entspringen. Zusammen ergibt das eine Story, die selbst für Fantasy-Verhältnisse ungewöhnlich ist.
Neben den Erlebnissen seines Hauptprotagonisten Ernestus wechselt der Autor zwischenzeitlich auch zu anderen Personen, deren Geschichten sich schließlich mit der Haupthandlung vereinen, und das teilweise auf überraschend unerwartete Weise. Der Epilog könnte durchaus eine Tür zu einer Fortsetzung öffnen.
Auffallend ist, dass das Buch in Schweizerdeutsch veröffentlicht wurde, was erklärt, dass unser gewohntes „ß“ durchgängig durch „ss“ ersetzt ist. Weniger bekannte Begriffe werden in Fußnoten erklärt.
Fazit:
Mit ihrer Verwurzelung in der Schweiz des 10. Jahrhunderts geht dieses Fantasy-Abenteuer auch für Genre-Fans ungewohnte Wege.
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