Fuyuko ist 34 Jahre alt, Korrekturleserin und einsam. Sie lebt für ihre Arbeit, die sie mit selbstausbeuterischer Gewissenhaftigkeit verrichtet. Einzig der Spaziergang, den sie regelmäßig durchs nächtlich erleuchtete Tokio unternimmt, bereitet ihr neben dem Beruf Freude. Sie hat sich in ihrem Einsiedlerinnenleben eingerichtet, bis sie eines Tages in den Spiegel sieht und feststellt, dass sich ihr ganzes Dasein in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: miserabel.
In diesem Moment entscheidet sie, dass sich etwas ändern muss - und fasst einen folgenschweren Entschluss: Sie beginnt zu trinken. Was mit einem Feierabendbier beginnt, gerät allmählich außer Kontrolle, und bald verlässt Fuyuko das Haus nicht mehr ohne eine Thermoskanne Sake. Bisher bloß am Beckenrand wagt sie sich nun hinein ins Leben - und sinkt immer tiefer. Allein die zufällige Begegnung mit einem Mann namens Mitsutsuka bewahrt sie davor, unterzugehen.
Intensiv und aufwühlend zeichnet Mieko Kawakami das Bild einer Frau, die erkennt, dass sie auf sich selbst hören muss, um von der Randfigur zur Protagonistin im eigenen Leben zu werden.
"Es gibt eine Einsamkeit auf dieser Welt, die so groß ist, dass man sie in den langsamen Bewegungen der Zeiger einer Uhr sehen kann.“ | Charles Bukowski
Dirk Knappe aus Hagen am 16.07.2023
Bewertet: eBook (ePUB)
In Japan gilt die Autorin Mieko Kawakami als Star. Ihre Themen sind Feminismus, Herkunft aus armen Verhältnissen, die Schattenseiten kapitalistischer Glitzerwelten.
So auch in "All die Liebenden der Nacht", einem Roman von 2011, der jetzt hervorragend übersetzt im DuMont-Verlag erschienen ist.
Ohne Vorurteile oder sie der Lächerlichkeit preiszugeben, man muss sagen fast schon geduldig, richtet Mieko Kawakami dabei den Blick auf Fuyuko, eine Frau im Japan der Gegenwart. Aber auf eine, die sich den sozialen Zwängen und dem hohen Tempo der japanischen Gesellschaft entzieht. Und dabei immer weiter in den Schatten gerät.
Es gibt im Japanischen sogar ein Wort für Menschen wie der Korrekturleserin Fuyuko, die mit der Außenwelt kaum mehr Kontakt haben und beinahe ausschließlich einsam in ihren Apartments leben: „Hikikomori“ – als die, die sich zurückziehen.
Mit klaren, einfachen, manchmal fast schon nüchteren Worten, schildert die Autorin die Welt und das Leben von Fuyuko. Dieser Schreibstil wirkt wie ein Brennglas und hat mich die Einsamkeit der 34jährigen Hauptakteurin umso intensiver spüren lassen.
Mieko Kawakami erzählt auch in "All die Liebenden der Nacht" von Menschen, die durch die kapitalistische Lebenswelt zur Randfigur werden. Dabei schildert sie, wie bereits in "Heaven" [Mobbing & Gewalt] eine weitere Facette dieser menschenverachtenden "Exstenzweise des Habens" [Einsamkeit & Selbstentfremdung].
Ein wichtiges, aber schwer erträgliches Buch.
Ich könnte mir eine filmische Umsetzung sehr gut durch Jim Jarmusch vorstellen.
Ungewöhnliche, einfühlsam erzählte Liebesgeschichte um die Korrekturleserin Fuyuko
Bewertung aus Berlin am 29.06.2023
Bewertet: eBook (ePUB)
Fuyuko Irie, die als Korrekturleserin für einen größeren Verlag arbeitet, geht tagein tagaus dem gleichen routinierten Ablauf nach. Sie ist aber so einsam, dass sie sogar ihren Geburtstag allein mit einem Spaziergang bei Nacht verbringt. Aber dann trifft sie inspiriert von der selbstbewussten Hijiri Ishikawa, die beim Verlag für die freiberuflichen Korrekturleser zuständig ist, eine folgenschwere Entscheidung. Sie beginnt zu trinken und das Drama nimmt seinen Lauf.
Mit Fuyuko hat Mieko Kawakami eine ungewöhnliche Hauptfigur für ihren Roman ersonnen, die sie nicht der Lächerlichkeit preisgibt, sondern der sie sich in ihrer aufmerksamen Betrachtung einfühlsam nähert. Fuyuko, die Mitte dreißig ist, stammt ursprünglich aus dem ländlichen Nagano. In Tokyo hat sie weder Freunde noch Familie oder einen Partner. Solange sie als Korrekturleserin in einem kleinen Verlag festangestellt gewesen ist, hatte sie ihre freien Abende mit Nichtstun zu füllen. Doch als Selbständige steckt sie ihre ganze Zeit in ihre Arbeit, indem sie sich einem ihr zugeteilten Auftrag widmet, bis das entsprechende Buch fertig Korrektur gelesen ist. Nur an ihrem in den Dezember fallenden Geburtstag gönnt Fuyuko sich den Luxus und unternimmt einen Spaziergang durch die Stadt, an deren Lichtern sie sich erfreut. In diesen Szenen zeigt Mieko Kawakami ein ausgeprägtes poetisches Talent, das eine betörende Schönheit, die in der Nacht liegen kann, heraufbeschwört. Da diese unerwartet verträumten Momente diesem Roman einen besonderen Touch gegeben haben, hätte ich davon gern mehr gelesen.
Fuyuko, die als unsichere Person charakterisiert wird, tut sich schwer im Umgang mit anderen Menschen, aber auch mit den von ihr getroffenen Entscheidungen. So meidet sie soziale Situationen wie gemeinsame Mittagessen mit Kollegen, was während ihrer Festanstellung im Verlag zu Problemen geführt hat. Erst wurde sie kaum beachtet, dann ausgegrenzt und hinter ihrem Rücken über sie gelästert, bis ihr schließlich die Kollegen deren Meinung offen ins Gesicht gesagt haben. Trotz ihrer passiven Hauptfigur gelingt es Mieko Kawakami, dass sich "All die Liebenden der Nacht" recht flüssig liest. Ins Stocken gerät der Roman nur, wenn Gespräche mit Hijiri wiedergegeben werden, da Fuyuko in ihrer Gegenwart nicht weiß, was sie sagen soll, und ihre Sätze unvollständig enden lässt. Die extrem oberflächliche Hijiri eckt mit ihrem übertriebenen Selbstbewusstsein an und schwingt gern Monolog artige Reden über Banalitäten, die sie in verworrenen Gedankengängen zu tiefgründigen Aussagen aufzubauschen sucht. Dabei ist für mich schwer nachvollziehbar geblieben, warum Fuyuko sich derart stark von Hijiri angezogen fühlt, die abgesehen von ihrem gutaussehenden Äußeren wenig vorzuweisen hat. Denn Hijiri nimmt entscheidenden Einfluss auf Fuyukos Leben, indem sie sie zur hauptberuflichen Selbständigkeit überredet, so dass sie mehr Aufträge für Hijiris Verlag erledigen kann, und sie zum Trinken motiviert.
Fuyuko hat nie wieder Alkohol angerührt, nachdem sie diesen nur ein einziges Mal in jungen Jahren probiert hat und ihr davon zu schlecht geworden ist. Die Handlung von “All die Liebenden der Nacht” beginnt Fahrt aufzunehmen, als Fuyuko sich zum Trinken entschließt. Bier und Sake lassen sie mutiger werden, selbstbewusster auftreten und flüssig mit anderen kommunizieren. Weil sie plant etwas für sie gänzlich Neues zu probieren, besucht sie das Culture Center. Dort will sie sich für einen Kurs anmelden, um zu lernen, womit sie bislang nicht in Berührung gekommen ist. Im Culture Center macht sie die Bekanntschaft von Herrn Mitsutsuka, einem Physiklehrer an der Oberschule. Trotz ihres angetrunkenen Zustandes ist er nett zu Fuyuko und unterstützt sie, als sie seiner Hilfe bedarf.
Zugleich entwirft Mieko Kawakami ein intensiv geratenes Porträt, das in ruhigem Ton aus Sicht von Fuyuko wiedergegeben wird und deren Abrutschen in die Sucht beschreibt. Ihre Entwicklung zur Alkoholikerin wird von Aussetzern begleitet, aber auch dem angenehmen Gefühl, wie in Watte gepackt zu sein. Von der Autorin werden jedoch die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht ausgespart. Fuyuko hat mit Übelkeit zu kämpfen, ist peinlichen Situationen ausgesetzt, wenn Fremde feststellen, dass sie betrunken ist, und sie unbeabsichtigt an für sie ungewöhnlichen Orten einschläft. Eines Tages bleibt sie, als sie nach Hause kommt, einfach im Eingangsbereich ihres Appartements liegen oder ist plötzlich für einige Stunden beim Warten auf einer Bank weggetreten, so dass ihr währenddessen die Handtasche gestohlen wird.
Stärker wäre "All die Liebenden der Nacht" ausgefallen, wenn Mieko Kawakami ihrer in der Gegenwart derart passiv agierenden Protagonistin dadurch mehr Profil gegeben hätte, dass sie weitere Episoden aus deren Vergangenheit in die Geschichte ihres Romans integriert hätte. Denn die nur vereinzelt auftauchenden Szenen haben mich allesamt überzeugt, indem ich die Schilderung traumatischer Erlebnisse aus ihrer Schulzeit als eindringlich und den vor Jahren getroffenen Entschluss, ihren Geburtstag am Weihnachtsabend mit einem Spaziergang bei Nacht zu verbringen, als betörend schön empfunden habe. Die so stille Fuyuko geht in der Interaktion mit der selbstbewussten Hijiri und deren ausgeprägten Geltungsbedürfnis, aber auch neben dem lebhaften Rededrang ihrer ehemaligen Kollegin Kyoko sowie einer den Kummer über die Tristesse ihrer Ehe ausschüttenden Schulfreundin unter. Dabei ist Fuyuko im Vergleich zum oberflächlichen Gehabe der genannten Frauen, die sich ganz in ihren alltäglichen Problemen verlieren und in deren hysterisch übertriebenen Umgang damit wenig nahbar für mich geblieben sind, die interessantere Figur gewesen. Denn hinter ihrer ruhig erscheinenden Oberfläche haben sich für mich unerwartete Facetten verborgen.
Auch hätte ich mir gewünscht, dass der nach und nach von der Autorin entwickelten, ungewöhnlichen Liebesgeschichte mehr Raum gegeben worden wäre. Diese hätte etwa dadurch mehr in den Mittelpunkt gestellt werden können, dass weitere Szenen in der Art wie ihr Besuch eines Buchladens in die Handlung eingebunden worden wären. Dort stößt Fuyuko zufällig auf die Regale, die die Ratgeber zu Heirat, Ehe, Kinderkriegen enthalten und kommentiert diese in Gedanken. Zudem ist mir der Schluss, den die Autorin für ihren Roman gefunden hat, zu abrupt gewesen, obgleich ein Jahre später angesiedeltes, Epilog artiges letztes Kapitel Antworten auf die sonst offen gebliebenen Fragen liefert. Meinem Empfinden nach hätte diese in ihrem eigenen, eher langsamen Rhythmus erzählte besondere Geschichte jedoch verdient nicht derart schnell zu ihrem Ende hin abgehandelt zu werden.
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Kawakamis Sprache schillert vor Nüchternheit, ohrenbetäubender Stille und betörender Gelassenheit.
Erzählt wird aus dem Alltag der einsiedlerischen Korrekturleserin Fuyuko (mit der ich mich beunruhigend gut identifizieren kann); von einem Lebensabschnitt, der von Romantik und Alkohol gesäumt ist wie von Zäunen, die am jeweils tiefsten und höchsten Punkt die Grenzen abstecken, damit dazwischen das Leben entsteht.
Eine Geschichte, bei der man sich nicht ganz sicher ist, ob sie einen einschläfern möchte, bis sie mit ihrer hypnotischen Ruhe wie aus dem Hinterhalt eine Sogwirkung erzeugt, der man sich kaum entziehen kann.
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Mieko Kawakami's Art mit Worten umzugehen ist eine Kunst für sich. Die Handlung, die Emotionen und vorallem die feinen Beobachtungen in diesem Roman waren so Alltäglich und doch so gut beschrieben, dass sie sich wie meine eigene Wirklichkeit angefühlt haben. Die Geschichte hat mich sehr berührt, auch wenn ich manche Entscheidungen der Protagonistin nicht verstehen konnte oder sie mich sogar sehr frustriert haben, hat mich das Buch sehr zum denken angerührt und mich auch in den Lesepausen ständig begleitet.
Definitiv eine Weiterempfehlung eines Buches in das man ohne Erwartungen und Wertung eintauchen sollte.
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