Das literarische Debüt von Edgar Selge: Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik. Exemplarisch und radikal persönlich.
Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Fantasie.
Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. Wenn sich der dreiundsiebzigjährige Edgar Selge gelegentlich selbst einschaltet, wird klar: Die Schatten der Kriegsgeneration reichen bis in die Gegenwart hinein.
Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität. Ob Bach oder Beethoven, Schubert oder Dvořák, Marschmusik oder Gospel: Wie eine zweite Erzählung legt sich die Musik über die Geschichte und begleitet den unbeirrbaren Drang nach Freiheit.
Der Autor ist ein berühmter deutscher Schauspieler Edgar Selge. Geboren wurde er kurz nach dem Krieg und Inhalt des Buches ist seine Kindheit in der deutschen Nachkriegszeit. Sein Vater ist Gefängnisdirektor und somit ein autoritärer Typ, der den Autor regelmäßig schlägt. Unter anderem beim Lateinunterricht, wenn der Sohn verschiedene Konjugationsformen verwechselt. Die Mutter kümmert sich um den Haushalt und versucht ihren Platz neben dem Vater zu finden, häufig erscheint sie als bloßes Beiwerk zu diesem. Edgar hat noch drei weitere Brüder, einer ist vor Jahren durch einen Unfall gestorben. Er erscheint sehr träumerhaft, schleicht sich nachts aus dem Haus, um ins Kino zu gehen und eckt auch ansonsten durch allerlei Aktionen an.
Das Buch ist schön geschrieben, eine sehr besondere Sprache mit besonderen Sätzen aber gleichzeitig nicht abwegig intellektuell und gestochen. Aus meiner Sicht sind die Hauptthemen des Buches der Umgang der Bevölkerung mit dem Dritten Reich, die Erziehung mittels Schläge durch den Vater sowie die Rollenverteilung von Mann und Frau zu dieser Zeit.
Der Vater pflegte gute Beziehung und Bewunderung zu NS-Verbrechern, die er als Oberstaatsanwalt im Gefängnis betreute. Zudem schildert Edgar zahlreiche Situationen in denen die Eltern aufgebracht reagieren, sobald das Thema der Naziherrschaft aufkommt und verteidigen ihre Ansichten.
Das Verhältnis der Eltern zu Edgar lässt häufig Liebe und Verständnis vermissen. Bei jeglichem Verstoß gegen elterliche Regeln fürchtet er die Reaktion des Vaters, die häufig aus Schlägen besteht. Die Eltern interessieren sich keinesfalls für die Beweggründe hinter Edgars Verhalten oder versuchen ihrem Kind ein Ansprechpartner zu sein.
Das Buch zeichnet sich durch wenig Handlung aus. Der Autor schildert seine Kindheit und eine solche bietet meist weniger Handlung und Spannung als eine ausgedachte Geschichte oder ein Krimi. Es passiert eher wenig und es gibt keine Wendungen oder Höhepunkte. Der Fokus lag aus meiner Sicht vielmehr auf einem Eintauchen in die Gedankenwelt des Autors in seinen kindlichen Jahren und im Schildern der oben genannten Konflikte.
Edgar Selge gibt sehr berührende und humorvolle Einblicke in seine Kindheit, seine musikalische Familie und das Leben in der Nachkriegszeit. Man merkt wie schwer es teilweise gewesen sein muss, die richtigen Worte zu finden, um seine Geschichte zu erzählen. Verletzlich und dabei klug. Lesenswert!
Beeindruckend geschriebene Familiengeschichte voller Ehrlichkeit, Humor, Ironie und Mitgefühl
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Ein Roman ist das nicht. Steht ja auch nicht drauf. Dazu passiert auch zu wenig, es gibt keinen roten Faden, keine Entwicklung. Das ist eher eine episodenhafte Kindheitsautobiographie, gleichwohl ein literarischer, ein unglaublich gut geschriebener Text, in dem Selge sein Elternhaus um 1960 zu ergründen versucht. Mit den Augen eines Zwölfjährigen betrachtet er seine Familie: Die Eltern sind kulturbeflissen, lieben Musik, kümmern sich um ihre Söhne, achten auf Regeln und gemeinsames Familienleben. Auf der anderen Seite scheinen sie gebrochen durch Krieg und Vertreibung sowie den Verlust zweier Kinder. Sie sind nach wie vor überzeugte Nazis, können offenbar nicht aus ihrer Haut. Die Mutter kränklich, passiv, vom Leben enttäuscht und mit sich selbst beschäftigt. Der Vater ein weinerlicher Choleriker, der seinen Sohn schlägt. Vor allem an ihm arbeitet Selge sich in seinem Buch ab, versucht sich zu erklären, wie er diesen Mann dennoch lieben kann. Diese Ambivalenz, die der Autor hier zeigen will, dieser Hauptaspekt des Buches, misslingt meiner Meinung nach jedoch - für mich bleibt der Vater einfach nur eine abstoßende Figur in seiner Jämmerlich- und Gewalttätigkeit. Vor allem dann, wenn sich gegen Ende des Textes noch ein ganz besonders widerlicher Aspekt seines Verhaltens offenbart. Vielleicht missinterpretiere ich den Autor da aber auch; egal, das tut dem Text in seiner geradezu schmerzhaften Wucht, in seiner Einzigartigkeit keinen Abbruch. Selges Schreibstil ist ein ganz besonderer - voller Ehrlichkeit, Humor, Ironie, Mitgefühl, dazu aus der Sicht eines Kindes, im Präsens geschrieben, das verleiht dem Text eine ganz eigene Wirkung. Es gibt so viele kleine, unglaublich gute Szenen in diesem Buch, mal grotesk, mal voller Schrecken, mal mit zu Tränen rührender Empathie, besonders wenn er das Sterben seiner Brüder beschreibt. Sich selbst bzw. sein kindliches Ich schont der Autor dabei keineswegs, stellt sich nicht bloß als Opfer dar. Er klaut, lügt und betrügt. Überhaupt umschifft Selge gekonnt jeglichen Pathos und Klischees. Ich bin von diesem Werk tief beeindruckt, und hoffe, es bleibt nicht das einzige dieses spätberufenen Autors.
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Nicht anklagend, sondern authentisch, ehrlich und immer humorvoll erzählt der Schauspieler Edgar Selge von seiner Kindheit Ende der 50er, Anfang 69er Jahre und vor allem von seiner Beziehung zu seinem Vater, der das Kind hart behandelt, das ihn aber trotzdem liebt und zu ihm aufschaut. Die Erinnerungen an diese ambivalente Beziehung trägt Selge mit sich herum bis er es schafft, sie zu Papier zu bringen. Und das macht er ganz fantastisch, unterhaltsam und berührend.
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