Tarjei Vesaas (1897–1970) erreichte mit seinem Schreiben eine einzigartige Meisterschaft: klar komponierte Geschichten, eine verdichtete, geradezu glühende Sprache, eigenwillige Figuren voller Spannungen, die ihrer inneren Stimme folgen. In .Frühlingsnacht. steht der 14-jährige Hallstein im Mittelpunkt, gerade an der Schwelle zwischen Kindlichkeit und Erwachsenensein, der mit seiner älteren Schwester Sissel über Nacht allein zu Hause bleibt, als die Eltern zu einer Beerdigung in die nahe Ortschaft fahren. Hitze und Feuchtigkeit liegen drückend auf dem Tag, und als die Geschwister sich zum Abendessen setzen, klopft es an der Tür. Eine fremde Familie benötigt nach einer Autopanne Unterkunft, zumal eine junge Frau kurz vor der Entbindung steht. Alle sind in Aufruhr, die Besucher bringen dramatische Konflikte mit, und die Frühlingsnacht wird zu einem Abenteuer, das Ungeklärtes zutage befördert und jeden verändert zurücklässt.
Tarjei Vesaas schafft mit wenigen Strichen eine verzauberte Atmosphäre. Die norwegische Natur um das Haus blüht und wächst, Bäume schlagen aus, Knospen springen auf, und der unaufhaltsame Lebenstrieb sprießt auch in Hallstein und Sissel. Durch Hallsteins Augen nehmen wir das Geschehen wahr, und ohne dass es Erklärungen gäbe, verstehen wir nach der Lektüre mehr von dem, was in und um uns wirkt. Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung gelingt das Wunder, das auch Vesaas’ Prosa so magisch macht: Vieles bleibt unausgesprochen, verharrt in Andeutungen, und doch entsteht zwischen den Zeilen ein poetischer Raum, eine eigene Welt, die Trost bietet und die man nicht mehr verlassen möchte.
Als die Eltern des 14-jährigen Hallstein ihn und seine vier Jahre ältere Schwester Sissel in einer warmen Frühlingsnacht zuhause allein lassen, ahnt der kindlich-naive Junge noch nicht, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommen wird. Zunächst scheint es aufregend genug, den Flirt seiner Schwester mit Tore, einem Jugendlichen aus dem Ort, zu beobachten, sich gemeinsam mit Sissel der Natur zu widmen und einen Plausch mit seiner imaginären Freundin Gudrun zu halten. Doch spätestens als es ihm scheinbar gelingt, den Regen zu beherrschen, weiß Hallstein: "In dieser Nacht schien alles möglich!" Und tatsächlich steht nur wenige Momente später im strömenden Regen eine Familie vor der Tür und bittet nach einer Autopanne um Einlass, den Hallstein und Sissel ihr auch gewähren. Eine fatale Entscheidung, deren Folgen nicht nur Hallsteins bisheriges Leben komplett aus den Fugen geraten lässt...
"Frühlingsnacht" ist der vierte Roman von Tarjei Vesaas, der in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel bei Guggolz erschienen ist. Das Original erschien 1954 unter dem Titel "Värnatt" und wurde 1976 in Norwegen von Erik Solbakken verfilmt. Was das Buch mit "Die Vögel", "Das Eis-Schloss" und "Der Keim" gemein hat, ist die Fähigkeit Vesaas' sich der Innenwelt der zumeist jugendlichen Hauptfigur so stark anzunähern, dass der Leser das Gefühl bekommt, mit Hallstein eins zu werden. Es gibt keine einzige Szene in "Frühlingsnacht", die ohne Hallstein auskommt, und der 14-Jährige hält diesen Druck auf seinen schmalen Schultern mit Verve aus. So wie er ohnehin einiges auszuhalten hat in dieser verrückten Nacht, in der er den unterschiedlichen Familienmitgliedern vieles verspricht und bald gar nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht.
Und genauso geht es auch der Leserin, der im Gegensatz zu den erwähnten Vesaas-Romanen bei der Lektüre doch einiges abverlangt wird. Denn das, was Vesaas so meisterlich beherrscht, treibt er in "Frühlingsnacht" auf die Spitze - und damit den einen oder die andere an den Rande des Wahnsinns. Vesaas deutet an, lässt Raum für die Gedanken der Leserschaft und damit eben auch für Hallstein. Die Ankunft der seltsamen Familie, die sich alles andere als höflich zeigt und fordernd bis unverschämt auftritt, macht aus "Frühlingsnacht" eine Art Kammerspiel und erinnert ein wenig an die zahlreichen "Home Invasion"-Filme, wobei lange unklar bleibt, was eigentlich das Unbehagen ausmacht. Eine Hochschwangere, deren kriegstraumatisierter Ehemann, das ständig redende und Unruhe verbreitende Familienoberhaupt und dessen offenbar stumme und gelähmte Ehefrau, sowie die 13-jährige - Achtung - Gudrun: Vorhang auf für eine schrecklich nette Familie!
In der Folge sind es insbesondere die beiden Ältesten, Hjalmar und Kristine, deren Motive über lange Zeit vollkommen unklar bleiben und - so viel sei verraten - bis zum Ende nicht wirklich aufgeklärt werden. Die vermeintlich stumme Kristine fordert gleich zu Beginn die bedingungslose Unterstützung Hallsteins, doch wobei genau bleibt ebenso rätselhaft wie der Konflikt, der vor der Ankunft der Familie im Auto offenbar vonstatten ging. Hjalmar selbst ist für den Leser überhaupt nicht greifbar, was nicht nur an seinem Bewegungsradius liegt. In einer grotesk komisch anmutenden Szene repariert er kurzerhand das Auto, um es im Anschluss fast an die Hauswand seiner Herberge zu fahren. Diese Szene nimmt in "Frühlingsnacht" eine Schlüsselposition ein. Einerseits zeigt sie die Ambivalenz Hjalmars, andererseits denkt sich Vesaas im Anschluss daran ein Ereignis aus, das nicht nur Hallstein den Boden unter den Füßen wegzieht.
Wer diese Nacht gemeinsam mit Hallstein durchhält, wird letztlich belohnt. Immer wieder gelingt es Tarjei Vesaas, die Leser für den jungen Helden einzunehmen. Seien es die hinreißend zärtlichen Momente, die Hallstein mit der echten Gudrun durchlebt oder dieses fast körperlich spürbare Hin- und Hergerissensein des Protagonisten, der wortwörtlich von einem Raum in den anderen rast, um jeder Figur gerecht zu werden. Und so scheint das Ende der Kindheit gekommen nach dieser Frühlingsnacht, in der Hallstein die vielleicht prägendsten Ereignisse eines Menschenlebens kennenlernt: Geburt, Liebe und Tod.
"Um nichts in der Welt wünschte er, der Wagen wäre gestern Abend vorbeigefahren", heißt es über Hallstein in einem eigentlich furchtbaren Moment. Und man kann ihm nur beipflichten, denn ohne dieses Ereignis wäre dieser wunderbare Roman wohl kaum entstanden. Am Ende der 240 Seiten wartet auf den Leser noch ein ungewöhnliches Nachwort der Autorin Hanne Ørstavik, das zum eigentlichen Roman zwar nichts beiträgt, aber mit seiner persönlichen Note und der Literarizität durchaus mit Gewinn gelesen werden kann. Es weckt in jedem Fall die Vorfreude auf weitere Vesaas-Werke, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft bei Guggolz erscheinen werden.
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